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Mit dem Abschiedskonzert der Onkelz wird auf dem Eurospeedway Lausitz 5 Tage lang Rock-Geschichte geschrieben. Mehr als 100.000 Menschen veredeln das Festival zu einem einmaligen Ereignis. Worte können zwar eigentlich nicht beschreiben, was an diesen Tagen in der Lausitz abgegangen ist, genauso wenig, wie sie würdigen können, welche Mammutplanung das Festival im Vorfeld war, dennoch hier der Versuch:
Irgendwo zwischen Cottbus und Leipzig wurde für 5 Tage ein Retorten-Städtchen aus dem Boden gestampft, das mehr Menschen beherbergte als Kaiserslautern, Flensburg oder Fürth und zwischenzeitlich zu einer der 50 einwohnerreichsten Städte des Landes avancierte und der Region quasi im Vorbeigehen zweistellige Millionenumsätze bescherte. Was war passiert? Umsiedlung? Nein! Goldrausch? Schon lange vorbei! Begegnung der 3. Art? Irgendwie auch… Nein, die Onkelz hatten geladen und alle kamen. 120.000 Menschen fanden den Weg in die Lausitz, um gemeinsam mit der Band einen Abschied zu zelebrieren, wie man ihn (denk-)würdiger nicht gestalten könnte. Dass das Wochenende vom 17. und 18.6. seinen verdienten Eintrag in die Annalen des Rock´n´Roll wird finden können, ist einigen schicksalhaften Ereignissen Anfang der 80er geschuldet, die hier nicht weiter thematisiert werden sollen – ja sowieso schon bekannt sind.
Wenn das Wort „einzigartig“ jemals legitim anzubringen war, dann doch wohl in diesem Zusammenhang. Um dieser Laufbahn gerecht zu werden – und das war schnell klar – genügte ein einfaches Farewell-Konzert nicht. Ein Festival musste her und das an zwei Abenden, um möglichst vielen Fans möglichst viel Material präsentieren zu können. Gonzo hatte diese Idee. Irgendwann während der Aufnahmen zu „Adios“ fiel sie ihm ein. Warum nicht zwei Tage zwei völlig unterschiedliche Sets spielen? Am ersten Tag die ersten 12,5 Jahre, am zweiten Tag die letzten 12,5 Jahre. Die Idee gefiel allen.
Der Eurospeedway Lausitzring, das VAYA CON TIOZ, war schon während der laufenden Tour im Herbst 2004 restlos ausverkauft. 100.000 verkaufte Tickets, nicht ein einziges geklebtes Plakat, nicht ein Werbespot, nicht eine Cross-Promotion undsoweiter. Der nackte Onkelz-Wahnsinn, von euch selbst heraufbeschworen.
Nach den ersten Abschiedswehen – „Adios“ veröffentlicht, LA ULTIMA beendet – muss dringend geprobt werden. Und wir erinnern uns: Zum Zeitpunkt der Rehearsals, die im Mai 2005 begannen, stehen da schon keine vier Freunde mehr im Studio23. Weidner und Röhr, einst das dynamische Songwriting-Duo, ab jetzt auf dem besten Wege, spinnefeind zu werden. Man spricht sich nicht aus. Man verweigert jedwedes aufeinander zugehen. Die Proben für das VCT laufen unter merkwürdigen Bedingungen ab. Gonzo und Stephan sind derart mit negativer Energie aufgeladen, dass sie es nicht aushalten, im selben Raum gleichzeitig zu stehen. Während Stephan dort seinen Bass spielt, zockt Gonzo da seine Gitarre. Die Spannungen sind im Mai 2005 unerträglich und so richtig freuen kann sich das Umfeld der Band nicht auf das Event – es gibt so viele Widrigkeiten, die es aus dem Weg zu räumen gilt, so viele… Die Sorgen sind einfach nicht zu ignorieren, können nicht ausgeblendet werden. Für das Management und den Rest der Band (insbesondere für Pe, Kevin ist zu dem Zeitpunkt schon nicht mehr wirklich ansprechbar und aufnahmefähig) ist die Situation grotesk und schwer auszuhalten. Auf engstem Raum, von Montags bis Donnerstags zusammen. Luft, die zum Schneiden dick ist. Jede Probe mit Kevin gerät zusätzlich zum Ratespiel. „Schafft er`s?“ Das alles fordert jetzt seinen Tribut, so kurz vor dem ultimativen Ende, noch während der Proben. Gehalst, verbrannt, verbittert.
Die Spannungen schaukeln sich bis kurz vor den Shows so hoch, dass man sich bei beim B.O. Management nicht mal mehr sicher ist, ob jedes Bandmitglied zum Lausitzring kommen, und wenn ja, die Bühne nicht sogar in einem Mahlstrom aus Wut, Trauer und Enttäuschung verlassen wird. Ein Notfallplan für den Worst Case muss her. Der sieht so aus, dass Ersatzmusiker hinter verschlossenen Backstage-Türen darauf warten zum Einsatz zu kommen, sollte es nicht anders gehen. Die wurden ein paar Wochen vorher resignierend vom Management bestellt. Jeder in Frankfurt hofft, dass diese Türen verschlossen bleiben.
Wie jeder weiß, blieben sie verschlossen. Alle vier Onkelz haben Bock auf das Festival, jeder ist bis in die Haarspitzen motiviert und keiner verlässt vorzeitig die Bühne.
Als die letzten Cases kurz vor dem ersten Showtag verpackt werden und es Richtung Berlin geht, wo die Band untergebracht ist, fällt zumindest ein kleines Päckchen Stress von jedem ab. Jetzt kann man sich wieder besser aus dem Weg gehen. Der Platz wird größer; nicht mehr eingeengt im Studio und keine negative Energie mehr.
Mittwochs am frühen Morgen öffnen sich die Schleusen und eine Flutwelle von Onkelznomaden ergießt sich aufs Veranstaltungsgelände.Die Vorhut sozusagen, schließlich sollte es ja erst am Freitag richtig losgehen. Schon der Donnerstag hat eine erste ernste Idee parat, was sich abspielen könnte, an den nächsten zwei Tagen. Diese Retortenstadt, zeitlich stark begrenzt aus dem Boden gestampft, ist erfüllt mit Leben. Der große Onkelzfan-Exodus gen Osten scheint beinahe abgeschlossen, zwischen 50- und 80.000 sollen es am frühen Nachmittag schon sein. Die ersten Siedler haben sich niedergelassen und begonnen, heimisch zu werden. Jeder richtet sich sein Refugium ein und sozialisiert sich und sein Umfeld. Piratenflaggen an Fahnenmasten, ein Meer aus Wohnmobilen, Zelten und Autos, begrenzt von Wald und Autobahn. Zäune, hunderte, tausende Metern von Zäunen, Zäune die in Betonblöcken stehen, Securityposten, Kontrollen, breite Schultern, schwarze Hemden, Sonnenbrillen, ein endloser Treck in schwarz, aufgerollte Schlafmatten unter dem Arm, über Zelte, Grillerei, Rauchfahnen, Leute haben ihre Wohnzimmergarnitur mitgebracht, Boxen, Liegestühle, Sofas, überall Sombreros, noch mehr Boxen, dort ein desolates Camp mit Technomusik, pralle Sonne, Kiefer knirschen, so schön kann Vorfreude sein. Weiter westwärts noch endlose Autoschlangen im Stau in einem Anfahrtssystem, das schon vor Stunden kollabiert ist. Leute schieben ihre Autos, Bierflaschen auf dem Autodach wackelnd, andere sitzen biertrinkend und sombrero-behelmt auf den Dächern fahrender oder fahrbereit scheinender Autos, wenn es nur weiter ginge und die Bullen schauen nur doof und wären sicher zu einem guten Teil selber gerne dabei. Irgendwie sieht alles nach einem gigantischen Barbecue aus. Mittendrin Federball, noch mehr Rauchfahnen, Kotelett auf dem Grill, der Typ, Kippe im Mund, Bierflasche in einer Hand, Grillzange in der anderen, Kleinstadt-Idylle in der Diaspora. An den Duschcamps, quer übers Gelände verteilt, herrscht ganztägig Hochbetrieb. Die Sonne knallt und der Staub kriecht in alle Poren. Gewaltige Fußmärsche zu den Wasserstellen nehmen die Reinlichsten mehrmals täglich auf sich, Leute mit Waschzeug unter dem Arm überall und hunderte, Gieskannen, Eimer mit Wasser werden quer übers ganze Gelände geschleppt. Die Luft knistert und es ist doch erst Donnerstag Nachmittag.
Die Bühne: 75m breit, 15m hoch, Vaya con Tioz – Deko, 40 Tonnen Stahl sind hier verbaut, dazu 16 Tonnen fürs Licht und immerhin noch acht für den Ton, dazu zentnerweise Deko-Fragmente. Vaya Con Tioz-Engel überall. Genickstarre für die ersten 15 Reihen! Von hier aus also sollten die Tioz-Jünger aus den Händen der Onkelz an zwei Abenden hintereinander die Hostie empfangen. 2 Leinwände hängen rechts und links an der Bühne, dazu 6 Delay-Tower – jeweils 2 gegenüber – die im Abstand von 80 Metern Ton und Bild in den 400 Meter langen Zuschauerbereich transportieren sollen. Am Donnerstag kommen auch die Onkelz zum ersten Mal zum Soundcheck aufs Gelände. Sonst so cool, kommen die vier aus dem Staunen erstmal gar nicht raus. Auf dem Papier sind 75 Meter Breite doch noch etwas ganz anderes als in der Natur. Die ersten zaghaften Töne erklingen und an den Zäunen rund um den Bühnebereich versammeln sich Tausende, zunächst ungläubig, dann staunend. 400 Meter Entfernung zur Band lassen zwar keine Close-ups zu, aber wenigstens gibt es freie Sicht über das gesamte weite Feld, wo morgen über 100.000 Mann ameisengleich durcheinanderwuseln würden. Kein Fleck unbedeckt. wo sich zahlreiche Crew-Mitglieder tummeln und sich den Soundcheck anschauen.
„Onkelz 2000“, „Wieder mal ´nen Tag verschenkt“, „28“ und „Hier sind die Onkelz“ werden komplett geprobt, alles schon hunderte, tausende Male gemacht. Es wirkt doch alles sehr routiniert – im positiven Sinne. Die Handgriffe sitzen perfekt, die Technik läuft sowieso. Heute steht in erster Linie Dimensionsanalyse auf dem Plan, gewöhnen an die neuen Ausmessungen. Eine Generalprobe konnte es nicht geben, auch wenn man ja nicht vollkommen unbeleckt ist, was große Bühnen angeht. Der Himmel ist blau, die Sonne scheint und nach einer Stunde ist der Spuk schon wieder vorbei.
Auf der Autobahn nebenan staut sich der Verkehr weiterhin kilometerweit. Die Blechlawine rollt ganz gemächlich weiter, während der Mensch auf dem Seitenstreifen grillt oder Fußball spielt. Null Stress. Trotzdem: Glücklich der, der schon sein Plätzchen gefunden hat. Im Infield lassen die Speedfreaks langsam ihre Dragster und Muscle Cars heiß laufen. Kaum zu glauben, wie laut diese Dragster sind. Die Luft dröhnt und der Sound wird von der Haupttribüne mehrfach zurück geworfen. 15.000 Leute sitzen da und lassen sich die Trommelfelle durchschütteln. Hochstimmung und die Racer werden begeistert abgefeiert. Die mobile Zeitnahme steht und Peter Ritscher, der Onkelz Dragster Pilot hat die ganze Szene mobilisiert, um hier eine wirklich beeindruckende Show abzuziehen. Neben den Profis bestreiten die „Public Racer“ den Hauptteil des Programms. 128 Teilnehmer aus eurer Mitte sind dem Ruf gefolgt und haben ihre Kisten an den Start gebracht. Und was für geniale Kreationen dort auf die Piste rollten. Ein Onkelz-Trabbi mit einer „28“ auf den Türen und satten 250 PS, eine gelbe Renn-Ente, ein Golf mit Flügeltüren, eine Cobra, ein uralter 50er Jahre Käfer mit zwei Hippie-Piloten aus Essen, Mustangs und Corvettes, Pick-ups und Mantas und eine ganze Reihe von professionellen Dragstern und Topfuelern. Erst wurden die Karren paarweise an die Startlinie gebeten, um dann zunächst einen dezenten Burnout hinzulegen und gleich danach wurde die Quarter-Mile geballert. 8,7 Sekunden und 230 Sachen für den Onkelz-Dragster von Peter Ritscher ist definitiv rekordverdächtig.
Ein nettes Budget hatte der B.O.S.C. von den Onkelz zur Verfügung gestellt, um für die kickwütigen unter den Besuchern ein sehr nettes Fußballturnierchen anzubieten. 16 Mannschaften kämpfen jeweils stellvertretend für ihr Bundesland um Ruhm, Ehre und die Anerkennung der rund 300 Fans, die den Weg vom Ring ins benachbarte Klettwitz gefunden haben. 10 Mann pro Team wurden Wochen vorher ausgewählt, vor Ort eingekleidet und direkt ohne größere Umwege auf den Platz geschickt. Großer Sport auf kleinem Feld, immer 1×15 Minuten, ohne Seitenwechsel. Dafür mit mehr oder weniger qualifizierter Kommentierung durch die Anwesenden. Die einen, durch Alkohol, undisziplinierte Mitspieler oder andere Katastrophen leicht desolat, andere bis in die Haarspitzen motiviert, alle lustig. Im Finale behielten schließlich übrigens die technisch versierten Baden-Württemberger die Oberhand gegen die aufopferungsvoll kämpfende Auswahl aus Sachsen-Anhalt.
In den beiden Partyzelten – strategisch günstig an beiden Enden des Areals platziert – ist seit gestern beinahe rund um die Uhr Programm. Wer Bock hat, kann hier sieben Mal pro Tag „Mexico“, „So sind wir“ oder „Die Firma“ hören, die Bands aus der zweiten Reihe geben sich die Klinken in die Hand und nutzen die Gelegenheit, mal vor vollem Haus zu zocken. Diverse Coverbands, ausgewählt unter zig Bewerbern, spielen eigentlich immer dasselbe, aber der Onkelz-Fan ist eben wegen Onkelz da und will es sich am liebsten ununterbrochen geben. Dazwischen gerne auch mal ein ganz kurzer, beinahe verschämter Blick über den Tellerrand hinaus. Doomfoxx, V8Wankers, Wonderfools, Bettie Ford und Junkhead. Zelt-Pogo vom Feinsten, es ist rutschig und ständig packt sich irgendwer hin. Egal, keine Verschnaupause und weiter, bis der Zeltboden vor Schmerzen schreit und schließlich irgendwann am Freitag Abend nachgibt. Kann passieren, ist ja schließlich Onkelz-Exstase. Auf jeden Fall ist Zelt Nummer eins, das neben dem „Titty Twister“, erstmal dicht… … und kommt so auch nicht mehr zu Onkelz-Ehren. Nein, nicht Coverband-Ehren… Echte Onkelz, getarnt, inkognito, unangekündigt und vor allem zum Anfassen, angelockt von der Produktionsleitung. Gonzo und Pe hatten sich Gitarre und Drumsticks geschnappt, um sich auf altbekanntes Terrain zu wagen und vor 60 Nasen die Bühne einer perplexen Coverband geentert. Kurz die Lage gecheckt, zwei Songs drauflosgerockt, ein paar Photos gemacht und direkt wieder abgedüst. Eine sehr lässige Aktion, die die Beteiligten sicher nicht mehr so schnell vergessen werden.
Als sich gegen Mittag die Schleusen öffnen, schwappen die Schwarzen Horden sturmflutartig aufs Gelände. Nicht tröpfchenweise, sondern sturmflutartig. Zu groß ist die Angst, etwas zu verpassen. Schnell mal alles angeschaut, wo steht die Bühne? Boah! Wo gibt’s was zu trinken? Die Spielzeiten der Vorbands waren zwar bekannt, aber klar, hier und heute geht es nur um eins. Onkelz – nicht mehr, nicht weniger! Die erste Reihe entfaltet wieder ihre gewohnte Wirkung und hat schon die ersten Opfer angesogen, die, die immer dastehen und andere, die es sich zum Abschluss noch mal richtig besorgen wollen inkl. 10 Stunden Anlauf, Stehmarathon und immer dicht vor der Dehydrierung. An den beiden Tagen geben sich im Vorprogramm Acts die Klinke in die Hand, die entweder schon mit den Onkelz gespielt haben oder schon länger zu den Favoriten der Band zählen. Dazu die eine oder andere Reminiszenz an den Publikumsgeschmack. In loser Folge: Motörhead, Wonderfools, D-A-D, Psychopunch, Sub7even, In Extremo, Discipline, Children of Bodom, Machine Head, Pro-Pain, Rose Tattoo und J.B.O. Da machten die unerfreulichen Absagen im Vorfeld – Marky Ramone, Turbonegro und Bombshell Rocks hatten trotz Zusagen noch gekniffen, Monster Magnet schoben anderweitige Verpflichtungen vor.
Als dann endlich jeweils um kurz nach 11 die Onkelz auf der Bühne auftauchten, brachen natürlich alle Dämme. Man kann es wirklich kaum in Worte fassen, dieses Meer aus Armen und Händen, diese Euphorie und diese totale Hingabe von beiden Seiten. 200.000 Hände im Takt und 200.000 Arme die hin und hergehen und aus 100.000 Kehlen kommt ein Sturm an Begeisterung und Dankbarkeit. Das Echo, das teilweise über den Platz flog, holte sich selber ein und trug zu einer Stimmung bei, die eigentlich nur als eine Art Trance oder Rock´n Roll Glückseeligkeit oder irgendetwas schwer Definierbares in dieser Richtung bezeichnet werden kann. Zweimal jeweils 2 _ Stunden Vollgas, bis an die Grenzen der Belastbarkeit. Und wieder gab sich hinkniende Fans, wieder gab es große Momente der Emotionalität und Dankbarkeit auf beiden Seiten – vor, auf und hinter der Bühne. VAYA CON TIOZ war zu groß, um es zu verstehen.
Fotos: Edmund Hartsch