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Das achte Studioalbum „Heilige Lieder“ erscheint auf dem Bellaphon-Label und bringt die Onkelz erstmalig in die Top Ten.
Im Juni 1992 geht es für die Band geschlossen nach Hennef bei Bonn, raus auf`s Land. Helmut Rüssmanns Tonstudio bietet eigentlich jedem Bandmitglied die Möglichkeit, das Album in entspannter, wohltuender und relaxter Atmosphäre aufzunehmen. Wäre nicht Kevin Richard Russell. 1992 steht der Sänger ganz dicht am Rande des Exitus. Alkohol, Heroin, Kokain, Amphetamine und jede Menge Gras. Manchmal ist er so drauf, da zerschneidet er sich mit Rasierklingen das Gesicht. In regelmäßigen Abständen zerlegt Russell seine Möbel in der 28 kurz und klein. Als man ihn dort nicht mehr alleine lassen kann, zieht er ins Hinterzimmer seiner Tattoo-Bude und steht unter der Obacht von Auge. Tätowieren? Daran ist nicht mehr zu denken. Er lässt Kunden stehen, oder fängt halbe Arbeiten an, ohne sie zu beenden. Manchmal macht er beim Peikern eine Pause, um sich schnell in seinem Zimmer einen Schuss zu setzen. Dann kommt er wieder, glasige Augen wie ein seelenloses, krankes Wesen und tätowiert weiter. Verwackelte Bilder aus dieser Zeit liefern Zeugnis einer Kunst Russells, die keine mehr war. Die Sucht zerstört alles was er ist und alles, was er sich trotz immenser innerer Widerstände aufgebaut hatte. Je weiter das Jahr fortschreitet, desto mehr verfällt der Sänger der Böhsen Onkelz. Vollbärtig, kalkweiß, abgebundene Venen, getrocknetes Blut an Armen und Halsschlagadern. Dazu kommen Verletzungen, die ihm Dealer zufügen (und die bekanntermaßen in Frankfurt am Main gar keinen Spaß verstehen) und ihm unter anderem nach einem „Besuch“ im Golden Sword ein halbes Ohr abreißen. Keiner konnte Kevin mehr aufhalten. Die Achterbahn, die sich sein Leben nannte, blieb mitten in einem Looping stecken.
Stephan und Gonzo sind am anderen Ende der Schnur. Im Juni ’92 reist Weidner mit seiner Freundin nach Mexico, wo er alle Texte für die neue Veröffentlichung schreibt. „Heilige Lieder“, das neue Studioalbum, entsteht in seiner Gesamtheit in einer sehr ruhigen und entspannten Atmosphäre an einem einsamen Strand in Mexico. Psychotrope Pflanzen und bewusstseinserweiternde Drogen spielen hierbei keine unerhebliche Rolle. Manchmal sitzt Weidner stundenlang am Strand, sieht dem Meer und dessen Wellen zu, beobachtet den Himmel und ist high wie nie zuvor. Die psychotropen Pflanzen waren u.a. halluzinogene Pilze aus Palenque und höchst potent. Täglich erhöht er seine Dosis und nachdem er am Strand und/oder an seiner Hütte sitzt, vergisst er alle Probleme. Frankfurt ist urplötzlich soweit weg, wie noch nie. Schon ein paar Jahre zuvor entschied sich Weidner dazu, Vegetarier zu werden. Da war er mit seiner Ex-Frau Pia auf Walbeobachtung in den USA, und bis 1992 hatte er – trotz eingeschränkter finanzieller Mittel – oftmals mit Edmund Hartsch große Teile der Welt bereist. Dennoch war keine dieser Reisen so inspirierend wie die nach Mittelamerika im Frühsommer 1992. Tonnen an Literatur von Tom Robbins und Carlos Castaneda verschlingt er. Danach gibt es keine Angst mehr. Keine Ungewissheit und die Dualität des Zwillings scheint an ihre Grenzen gestoßen zu sein. Stephan Weidner ist nach diesen Erlebnissen ein anderer Mensch.
Im Rucksack verstaut Stephan fertige Texte und viele Kompositionen, die er nach seiner Rückkehr mit Gonzo noch verfeinert. Matthias „Gonzo“ Röhr liefert auf „Heilige Lieder“ zweifelsfrei seine bis dato beste Arbeit ab. Ein wahres Fest für jeden Hardrock Fan. Die Texte sind verschachtelt und manchmal nicht ganz so leicht zu verstehen. Auch das gab es zuvor noch nicht. Ganz tief beeindruckt von den noch nicht verarbeiteten Eindrücken Mittelamerikas, wächst Stephan lyrisch über sich hinaus. Oft bedient er sich dabei bei großen Autoren, bei wahren Meistern ihres Faches – doch er klaut nicht. Das wäre viel zu einfach erklärt. Er schreibt auch nicht ab. Er nimmt die hochintelligenten Sätze, Wörter oder Phrasen und münzt sie auf das Leben seiner Band. Castaneda, Robbins und – ganz wichtig – Hermann Hesse dienen in den Neunzigern als wahre Ozeane der Inspiration für Stephan.
Gonzo und Pe leben zu dieser Zeit schon ein bescheidendes Leben ohne Exzesse oder Skandale. Röhr wohnt seit vielen Jahren mit seiner Freundin Verena zusammen und ist den Böhsen Onkelz – bzw. speziell Stephan – ein extrem wichtiger Ideengeber, musikalischer Funke und Counterpart.
Neben den vielen Problemen um Russell gründet die Band 1992 auch eine Firma, die sich um alle Belange der Band kümmern soll. Ein richtiges Management, eben weil sich Bellaphon doch nicht – wie versprochen – um alles kümmern wollte. Die B.O. Management GmbH wird aus der Taufe gehoben und an deren Spitze führen damals noch Stefan Siebert und Mo Sudmann (heute: Mo Martinsohn) die Geschäfte, während sich erstmals ein gewisser Thomas Hess um`s Booking und Security kümmert.
Zurück zum Album. Während in Songs wie „Ein langer Weg“, „Ich bin in Dir“, „Buch der Erinnerung“ und natürlich „Gehasst, verdammt, vergöttert“ eindeutig das Bandgefüge und der Zusammenhalt zwischen den vier Frankfurtern und deren Fans beschworen wird, sind Lieder wie „Noreia“, „Schrei nach Freiheit“, „Angst ist nur ein Gefühl“ und besonders „Schließe deine Augen“ ungleich komplexer. Hier zeigt sich das, was von so vielen Kritikern einfach ungehört, unverstanden bleibt: Die Band hatte sich mächtig weiterentwickelt. Zwischen 1984 und 1992 lagen gerade einmal acht Jahre. Lächerlich wenig, wenn man bedenkt, wie krass sich der Horizont Weidners, Röhrs und Schorowskys erweitert hatte. Russell musste man ausklammern. Der war gedanklich natürlich ebenfalls längst aus den engen Hosenträgern und Doc Martens Boots raus – über seinen Verstand hing aber kontinuierlich eine dicke Nebeldecke.
Wichtig war ebenfalls zu wissen, dass mit „Nenn mich wie du willst“ ein Track auf „Heilige Lieder“ platziert ist, der sich explizit nicht nur gegen Mitläufer, sondern gegen rechte Chaoten und Faschos wendet. „Ich bade mich in Dummheit, bin ein übler Denunziant. Ich kreuzige mich selbst – und ich bin stolz auf unser Land.“ ist so eindeutig wie es wichtig war. Auch dieses Lied bliebt bei den Journalisten größtenteils unkommentiert. Letzteren wird wieder ein Song gewidmet. Nimmt man alleine „Es ist soweit“ und die „W.h.n.l.n.g.“, dann ist es die dritte Journalisten-Schelte in Folge. „Scheißegal“ war nicht nur gegen die Presse, die die Band immer wieder in den Dreck zog. Es ist auch ein Anti-Zensur Statement. Vielleicht noch wichtiger als der Presse-Aspekt.
Das Album schlägt auf dem Markt ein wie eine Bombe und klettert bis auf Platz 5 der deutschen Top 100 Longplay-Charts. Die Musikindustrie ist wie vor den Kopf geschlagen, dass eine Band ohne Radio Airplay, ohne Videoclip und mit großen Boykotten belegt, dennoch einen solchen Erfolg erzielen kann. In der Geschichte der deutschen Musik ist ein solcher Vorgang einzigartig.
Zusätzlich zur „Heilige Lieder“ LP wurde diesmal auch eine Single ausgekoppelt. „Ich bin in Dir“ ist die erste offizielle Single der Böhsen Onkelz und enthält die Songs:
„Ich bin in Dir“, „Gestern war heute noch morgen“ und „Heilige Lieder“. Als „12 inch Maxi“ und als „7 inch Single“ verkauft sie sich knapp 45.000 mal und wird heute als Rarität zu teuren Preisen gehandelt.
Zeitgleich arbeitet Hess mit Siebert akribisch an der Durchsetzung einer Tour. Doch es gibt Probleme. Unüberwindbare Probleme…
Tracklisting: „Heilige Lieder“:
- Oratorium
- Heilige Lieder
- Buch der Erinnerung
- Nenn mich wie du willst
- Ich bin in dir
- Scheißegal
- Diese Lieder…
- Gestern war heute noch morgen
- Schließe deine Augen (und sag mir was du siehst)
- Gehasst, verdammt, vergöttert
- Ein langer Weg
- Noreia
- Der Schrei nach Freiheit
- Angst ist nur ein Gefühl
- Wir schreiben Geschichte