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Am 26. August 1991 ist es soweit. Die Saat, die Ende 1990 mit der Vertragsunterzeichnung bei Bellaphon gesät wurde, geht im Spätsommer des Jahres 1991 auf.
Das erste Album bei Bellaphon, das erste Album der Onkelz als professionelle Rock-Band. Das hört man der Scheibe zu jeder Minute an. Aufgenommen in einem richtigen Tonstudio, abgemischt von Helmut Rüssmann, einem Profi im Business, ist „Wir ham`noch lange nicht genug“ der Schritt in die richtige Richtung. Bellaphon ist anfangs das, was sich die Band erhofft: Ein seriöser Rückhalt in allen wichtigen Fragen, rund um die Band. Die Frankfurter Plattenfirma veranstaltet eine Pressekonferenz anlässlich der Album-Präsentation. Stephan, Gonzo, Kevin und Pe müssen sich dort den Fragen der Journalisten stellen. Über die Anfangstage der Band, „Türken Raus“ und „Deutschland den Deutschen“ reden, und über einen Vorschlag, der irgendwann damals zum ersten Mal ausgesprochen wird, und dessen innere Unlogik den Gesetzen der Schizophrenie folgt. „Warum ändert ihr nicht einfach euren Namen?“ Wenn ihr euren Namen ändert, dann verzeihen wir euch. Die Band ist sprachlos. Eine Vergangenheit mit selbst erlebten Fehlern, aufrichtigem Lernen und Einsichten; ein langer Prozess des Menschwerdens soll also laut der Journaille weniger wert sein, als das Heucheln der eigenen Historie. Einfach den Namen ändern, und schon sind die Schandflecken auf der Weste gewaschen und selbige wieder blütenweiß. Das ist so grotesk verlogen, so beschämend, dass es kaum in Worte zu fassen ist. Deutschland, deine Vergangenheitsbewältigung steht auf wackligen Füßen – nicht die, einer Rockband.
Gonzo und Stephan sind beide kreativ wie nie zuvor. Die vielen Dinge, die vielen Erfahrungen und Schmerzen der letzten Jahre, sie sollen alle auf diesem Album zu hören sein.
Während das titelgebende „Wir ham`noch lange nicht genug“ ein Partyhit par Excellence ist, gibt es auch viele fiese Rockbretter auf dem Album zu hören. „Eine dieser Nächte“ beschreibt ziemlich genau das, was so viele Onkelz-Fans kennen. Versoffene Nächte; Spaß, der in Windeseile zu Ernst werden kann, wenn ein falsches Wort dem anderen folgt. „Das ist mein Leben“ schlägt in eine ähnliche Kerbe, geht aber – besonders live – noch krasser ab. Die Dualität des Zwillings, Stephans ureigener innerer Kampf, er wird in dem Song nochmal thematisiert. „Das Leben war nicht immer, nicht immer gut zu mir – Licht und Schatten steh`n gemeinsam vor der Tür…“ Kevin fällt ganz tief herab, und auch ihm werden – wie schon in „Leiden“, „Hast du Sehnsucht nach der Nadel“ und anderen Songs in den Jahren zuvor – wieder Titel gewidmet. „Wieder mal nen Tag verschenkt“ ist so ein Titel, der – wenn man um die Dramen des Sängers Bescheid wusste – präzise Russells Situation wiederspiegelt. Die gleichen Abläufe, von Tag zu Tag. Immer wieder das gleiche traurige, ernüchternde, langweilige Bild. Abends aufwachen, irgendwie. Zig Flaschen Jägermeister um einen herum, Spritzbesteck, Tabletten, Kotze- und Pissflecken an der Kleidung. Das erbärmlichste, asozialste Elend, in das ein Mensch rutschen konnte. Kevin ist auf bestem Wege dorthin. Und eins steht da schon fest: Hätte er nicht den Halt der Freundschaft zu Stephan und die notwendige finanzielle Stütze durch die Einkünfte der Band gehabt: Aus ihm wäre mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eins dieser vielen tausenden Junkie-Beispiele geworden, wie sie in Frankfurt überall anzutreffen waren. Nur darauf wartend, dass der nächste Schuss der letzte ist.
Natürlich ist Trimborns Tod ein Thema, wie konnte er nicht? Zwei Songs beschäftigen sich mit dem Mord aus dem vorangegangenen Sommer. „Ganz egal“ wird an die Adresse des Täters gerichtet. Ein dunkles Stück. Eins, vor dem man durchaus Albträume haben konnte. Kevins heisere, treibende Stimme und der leicht psychedelische Sound geben“Ganz egal“ eine Note von Horror und Bedrohung. Das war auch thematisch nicht viel anders. Von einem „Marathon der Schmerzen“ war da die Rede. Davon, dass die unbenannte Person im Lied bald „für immer schweigen würde“. Das ist starker Tobak, aber es bringt die Wut und den Wunsch nach Vergeltung der Band auf den Punkt. Natürlich denkt damals keiner mehr an Rache. Stephan und Kevin ist klar, dass jeder unüberlegte Schritt im Knast enden wird – das ist dieses Arschloch nicht wert. Dennoch wollen sie ihn wissen lassen, und das bei jeder Gelegenheit, dass man nicht einfach den besten Freund der Band umbringen, und dann mit sich und seinem Gewissen weiterleben kann, als wäre nie etwas passiert. Sie wollen, dass er Nacht für Nacht aufwacht, schweißgebadet und sich erinnert, an diese Nacht im Speak Easy, an den Moment des Tötens. An das Gesicht des Opfers. Nie soll der Täter vergessen, wessen Zorn er da auf sich zog. Niemals.
„Nur die Besten sterben jung“ ist das zweite Stück, das sich explizit mit dem Verlust eines geliebten Menschen auseinandersetzt. Auch wenn der Titel für Außenstehende martialisch anmuten muss, drückt er eine Ehrlichkeit aus, die keine andere deutsche Band bislang bei diesem sensiblen Thema erreichen konnte. Der Tod wird hier weder glorifiziert, noch negiert. Er wird als das hingenommen, was er ist: Unausweichlich, unberechenbar. Schmerzhaft. Scheiße schmerzhaft. Die Worte der Onkelz im Booklet der zehn Jahre später erscheinenden Best-Of „Gestern war heute noch morgen“ treffen den Nagel auf den Kopf: „Eines Tages wirst du alles verlieren. Du wirst auf diesen Tag nicht vorbereitet sein. Nicht durch deinen Glauben, deine Religion, durch gar nichts. Wenn jemand stirbt, den du liebst, wirst du nur Leere spüren. Du wirst wissen, wie es ist, völlig unwiderruflich allein zu sein. Du wirst nicht vergessen und nicht vergeben. Denkt an das, was ihr zu verlieren habt.“ Bis heute wurde das Lied tausendfach auf Beerdigungen gespielt. Es war tausendfach Seelentröster und Halt für Menschen, die einen geliebten Freund, Partner oder Lebensgefährten auf der letzten Reise begleiten mussten. Es war so wahnsinnig ironisch, so derart obskur, dass dieses Lied, das der Band am meisten Kraft gekostet hat, den Fans am meisten Kraft spendete – und den Song damit zu einem der wichtigsten Onkelz-Lieder aller Zeiten machte. Das macht Trimmis Mord nicht leichter zu verarbeiten. Gewiss nicht. Sein Tod bleibt sinnlos. Aber nicht umsonst.
Tracklisting „Wir ham`noch lange nicht genug“:
- Wir ham`noch lange nicht genug
- Eine dieser Nächte
- Das ist mein Leben
- Nur die Besten sterben jung
- Ganz egal
- Zieh`mit den Wölfen
- Zeig`mir den Weg
- Das erste Blut
- Wieder mal`nen Tag verschenkt
- Ach, sie suchen Streit
- 3`52 (CD Bonus)
- Wir sind immer für euch da (CD Bonus)
- Wir sind nicht allein (CD Bonus)
- Lt. Stoned (CD Bonus)