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Im Jahre 1989 finden die Böhsen Onkelz in den Medien noch immer nicht statt. Weder Tageszeitungen noch Musikmagazine interessieren sich für die Band. Die Kneipenterroristen LP vom Vorjahr wird kaum erwähnt und ebenso wenig ihr Ausstieg aus der Glatzenszene oder die wachsende Fangemeinde, die sich nun aus vereinzelten Alt-Skins, Punks und Rockern zusammen setzt. Wohl aber finden wieder erste Konzerte statt. Ebenso sollte an dieser Stelle ein Interview mit der Metal Zeitschrift „Reborn“ erwähnt werden, das im Herbst des Jahres geführt wird…

Stephan: „Wir wollten eigentlich schon auf jeder LP die Texte abgedruckt haben, weil wir gemerkt haben, dass gerade bei den alten Platten die Texte zum Großteil nicht verstanden wurden. Durch den etwas undeutlichen Gesang und die schnell aufeinander folgenden Worte sind häufig Missverständnisse aufgetreten. Viele Leute haben den Text nicht richtig verstanden und somit wurde der wahre Sinn des jeweiligen Liedes verfälscht. Deswegen wurde uns bei manchen Texten auch unterstellt, sie seien rechtsradikal. Und das stimmt nicht!“ aus: „Reborn“ Nr.2, Heavy-Metal-Fanzine, Herbst 1989

… und ein weiteres Interview, das zwar 1988 für ein Skate-Fanzine geführt wird, aber merkwürdigerweise in einer rechten Publikation im Jahre 1989 ohne Quellenangabe wieder auftaucht:

Frage: „Also, wir haben ja auch von Euch 1-2 Platten auf Kassette aufgenommen und haben auch versucht, da ein bisschen was rauszuhören, textmäßig, und da gibt es ein Lied, auf „Der nette Mann“ ist es glaub‘ ich drauf, das geht über die EM in Frankreich ’84. Da heißt es so was wie „Frankreichüberfall“, da hab ich gleich an Hitler gedacht so ein bisschen. Wie ist das denn aufzufassen?“

Stephan: „Da ging das Interesse am Fußball, vielleicht auch an Ausschreitungen unter Fans usw., das ging halt ein bisschen verloren, das wurde vielleicht ein bisschen zu politisch dargestellt. Vielleicht haben wir auch einen Fehler gemacht im Textschreiben und das nicht deutlich genug ausgedrückt, was wir damit meinen. Ich meine, wir haben einen ziemlichen Hals auf die Franzosen gehabt zu dieser Zeit, wir haben da so auf die Schnauze bekommen von den Bullen, und das war so ein bisschen Hasstirade auch auf die, das war schon dabei, aber es sollte eigentlich keine Volksverhetzung oder irgendso ein Quatsch sein, damit haben wir nichts am Hut.“ aus: Rock Nord, Winter 1989/90

Live gespielt hatten sie eine gefühlte Ewigkeit nicht mehr. Zwischen ihrem letzten Auftritt in der Rüsselsheimer Kirche im Frühjahr ´86 und dem anstehenden Konzert im April ´89 waren 3 Jahre und zwei Monate vergangen. Zu dieser Zeit hatten die Onkelz der Skindhead-Szene längst den Rücken gekehrt. Diese Metamorphose war nicht von heute auf morgen möglich, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Reifeprozesses. Die Skinheadbewegung hatte ihren Working-Class-Charme und die Authentizität gegen politische Idiotie eingetauscht. Mit Wehmut und Enttäuschung sieht die Band mit an, wie das, für was sie jahrelang eingestanden hatten, von Mitläufern der rechten Szene infiltriert wird. Es wären keine besonderen journalistischen Fähigkeiten notwendig gewesen, um die Abkehr der Onkelz von der Glatzenszene dokumentarisch zu beleuchten. Die Presselandschaft – mit Ausnahme einiger Fachmagazine – hingegen schweigt beharrlich und wenn es Berichte dazu gibt, dann folgen dieser stets folgender Gleichung: Skinheads sind alle rechtsradikal, die Onkelz sind nach wie vor Skinheads, ergo sind auch die Onkelz rechtsradikal. Ist doch ganz einfach, oder?

Die beiden Konzertabende des 3./4. Aprils 1989 im Wiesbadener „ZickZack“ waren in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Nach 3 Jahren und zwei Monaten steht die Band, die gerade mit der Skinhead-Bewegung abgeschlossen hatte, das erste Mal wieder live auf der Bühne. An zwei Abenden ist die Diskothek mit jeweils 800 Leuten restlos ausverkauft. Nazis suchte man hier vergebens und selbst Skinheads waren mit 20-30 Vertretern absolut in der Minderheit. Die Mehrheit bilden ein Potpourri aus langhaarigen Metallern, Punks und Fußballultras, die zum überwiegenden Teil das erste Mal ein Onkelzkonzert sehen. Der Onkelwahnsinn hatte sich herumgesprochen.

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Wahnsinn beschrieb Kevin Russell vortrefflich, wobei Wahn deutlich dem Sinn überwog. Er war die Reinkarnation dessen, was Stephan zu diesem Zeitpunkt bereits in vielen seiner Texte beschreibt. Wo Kevin psychisch war, vermochte niemand genau zu sagen. Sein Körper jedoch stand, wie ein Boxer, der bereits mehrfach angezählt war, auf der Bühne im „ZickZack“ und brüllte den Leuten ein „Guten Tag, erkennt ihr mich? Wisst ihr nicht wer ich bin?“ entgegen. Paradox, wenn man bedenkt, dass er es selbst nicht so genau wusste. Es war nicht zu bestreiten, Kevin, der jede Nacht von furchtbaren Albträumen heimgesucht wurde, balancierte wie ein Turner auf dem Barren zwischen Wirklichkeit und Fiktion. Zwischen hier und dort. Zwischen Himmel und Hölle. Was in Kevin zu dieser Zeit wirklich vorgeht, ist für die anwesenden Fans unsichtbar. Wenn er die Bühne betritt, lässt er seinen tiefen Aggressionen freien Lauf. Er ist das Bindeglied zwischen Stephan´s Texten und den Fans. Seine Stimme brennt sich in wenigen Minuten in das akustische Gedächtnis jedes Anwesenden. Am Ende des Konzertes in Wiesbaden hatte Kevin all seine Wut und Enttäuschung aus sich heraus gebrüllt. Zumindest vorübergehend. Wie eine Therapie nutzt er die Bühne als sein persönliches rotes Sofa. Die Stimmen in seinem Kopf sind 800 lautstarke Kehlen, die ihm jede seiner gesungenen Zeilen als Echo zurückwerfen. Die Onkelz sind zurück auf der Bühne und jeder der Anwesenden an diesem Abend versteht, das keine Kassette, keine Vinyl, die Energie, die Atmosphäre eines Konzerts der Böhsen Onkelz, jemals transportieren konnte. Wie ein Gewitter entlädt sich die Kraft der vier Frankfurter.

Nur zwei Wochen später, am 06. Mai 1989, spielen die Onkelz im Bootshaus des Offenbacher Ruderclubs „Wiking“. Weil sich Nowotny einen Scheiß um die Orga der Konzerte kümmert, helfen Auge, Trimmi, Bomber und ein Paar Freunde aus Rüsselsheim aus. Sie bauen das Equipment auf, helfen hier und dort und sorgen für Ordnung. Wenn nötig verteilen sie Ohrfeigen und Kopfnüsse, wenn es nicht anders geht. Bis zum vierten Song läuft der Abend wie ein typisches Onkelzkonzert: Eine schwitzende Meute pogt und tanzt um ihr Leben. Fällt jemand hin, strecken sich ihm 10 Hände entgegen, um ihm wieder aufzuhelfen.  Als alle kurz durchatmen brüllen etwa 40-50 anwesende Glatzen „Deutschland den Deutschen – Ausländer raus“. Die restlichen Anwesenden halten mit lautem Pfeifen sofort dagegen. Stephan unterbricht das Konzert, Auge und seine Leute positionieren sich vor der Bühne. Für einige Sekunden ist die Stimmung so explosiv, dass die Situation wie in Zeitlupe erscheint. Doch wie so oft, sind diese dummen rechten Parolen im Kern so hohl, wie die Köpfe derjenigen, die sie brüllen. Es hatte nur eine unmissverständliche Ansage vom Weidner benötigt, ein Kevin, der wie ein wildes Tier nur darauf wartete, dass er losgelassen wurde, Pe und Gonzo, die sich ebenfalls aufbauten, um den braunen Aufstand zu ersticken.

Videomaterial vom Konzert im „Wiking“:

Inzwischen war die „28“ zum Drogenlabor verkommen. Es sah aus wie bei einem Drehort zur neuen „Breaking Bad“ – Staffel. Gonzo und Pe hatten sich die Szenerie dort nur noch sehr selten angetan. An ihrer Stelle rücken Junkies im Endstadium, deren Armbeugen vom Fixen blutverschmiert sind. Die ganz Harten drücken sich das Zeug direkt in die Halsvene. Wenn keine Vene mehr zu finden war, drücken sie sich Zäpfen als Analinjektion in das Rektum. Kevin will zu den Harten gehören. Er will die Hauptrolle. Als Kevin das erste Mal Herion konsumiert, geht es ihm wie fast jedem am Anfang: Er musste kotzen. Getreu dem Motto „Beim ersten Mal tat´s noch weh, beim zweiten Mal nicht mehr so sehr“, gewöhnt sich der Körper schnell an das Heroin. Dann war es allerdings bereits zu spät. Das H hatte sich an die Synapsen des Hirns geklammert und wollte nie mehr loslassen. Alle Gefühle waren tot. Kevin wirkt plötzlich ruhig und ausgeglichen. Kein Vergleich mehr zum Pulverfass, das er noch vor seinem H-Konsum war. Das Heroin beginnt Kevin zu verändern. Still und heimlich kommt es durch die Hintertür auf direktem Weg in Kevin´s Hirn.

Stephan, der das Zeug zumindest mal probiert hatte, war schnell davon abgekommen, als er merkt, dass es seine Sinne raubt. Mit Gonzo beginnt er im Oktober ´89 mit der Komposition der neuen Platte, die 1990 erscheinen soll. Immerhin steht das 10-jährige Bandjubiläum vor der Tür. Das soll auf jeden Fall auch in einem Song gefeiert werden. Nowotny will nicht warten. Geldgeil und mit allen Wassern gewaschen, veröffentlicht er im Sommer ´89 die „Lügenmarsch“-Picture-Disc. Den Onkelz verkauft Nowotny die Veröffentlichung als unbedingtes Muss für jede Rockkapelle. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis Nowotny Geschichte sein würde. Die „Lügenmarsch“ Picture-Disc enthält mit „Könige für einen Tag“ und dem Titeltrack „Lügenmarsch“ gerade mal zwei unbekannte Stücke, die beide während der Aufnahmen zur „Kneipenterroristen“ entstanden waren.

Auf privater Ebene entschließt sich Weidner 1989 seinem Freund Edmund Hartsch bei der Geschäftsführung der „Cadillac Ranch“ zu helfen, bzw. mit einzusteigen. Weidners private Interessen haben sich in viele neue Bereiche aufgefächert. Dort, in der Ranch, knüpft er viele neue Bekanntschaften und alte Freundschaften werden reaktiviert. Der junge Moses Pelham, der Ende der Achtziger noch mit Markus Löffel als „We wear the Crown“ durch Frankfurt tingelt, gehört zu den Stammgästen der Ranch. Ebenso wie DJs der noch jungen hessischen Dance- und Techno-Szene. Sven Väth, Talla, Dag Lerner. Weidner tun die neuen Kontakte gut, sein Horizont erweitert sich zusehends. Er reist viel, liest viele Bücher und stellt sein Leben um. Zwar ist er noch immer Stephan Weidner, der keiner Konfrontation aus dem Weg geht, jedoch löst er seine Konflikte nicht mehr mit Gewalt. Kevin dagegen ist zu dieser Zeit noch immer außer Rand und Band. Seine Beziehung zu Stephans Schwester Moni leidet erheblich unter seiner immer schlimmer werdenden Drogensucht. Die Schlägereien in seinem Leben werden durch das H zwar weniger, hören allerdings noch lange nicht auf, und bald zieht Moni aus der „28“ aus und überlässt Kevin seinem selbst gewählten Schicksal. Pe und Gonzo halten sich weitestgehend aus den Exzessen raus und führen ein zurückgezogenes Privatleben mit ihren Freundinnen.

Tracklisting: „Lügenmarsch“

  • Ein guter Freund
  • Könige für einen Tag
  • Lügenmarsch
  • Freddy Krüger
  • Guten Tag
  • Tanz der Teufel
  • Religion

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