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Zwischen Haltern im Norden, Xanten im Westen und Hamm im Osten leben mehr als 5 Millionen Menschen. Unmittelbar an Duisburg grenzt Mülheim. An Mülheim grenzt Oberhausen. Essen und Bottrop grenzen an Oberhausen. Ach ja, und dann gibt es ja noch Dortmund und Gelsenkirchen. Recklinghausen gehört auch dazu, von kleineren Städten wie Moers, Dinslaken und Kamp-Lintfort (Heimat <3) ganz zu schweigen.

Der Ruhrpott: Unendliche Pleiten. Zechen mit Bergbau und Kumpels: Geschichte. Kaputt industrialisiert. Aber auch unendlich viele Anekdoten. Irgendwo zwischen Kohle, Stahl, Bauernhöfen und Industriequalm erzählt. Von Menschen, die wie Ochsen geschuftet haben. Deren Lungen schwarz sind von Teer und anderen wenig gesunden Stoffen. Nirgendwo in Deutschland dürfte es mehr COPD-Kranke geben als hier.

Kneipen. Überall Kneipen. Treffpunkte ganzer Malocher-Generationen. Früher gab es noch die fetten Großraumdiscos. Das „Delta“ in Duisburg, der „Musikzirkus“ in Oberhausen. Die „Turbinenhalle“ hat das Discothekensterben überlebt. Ganze Stadtteile im Pott, die Marzahn und den Frankfurter Berg im direkten Vergleich wie Kurorte aussehen lassen. Und dazwischen immer wieder grüne Wiesen, kleine Hügel, Weiden, der Niederrhein und Landwirtschaft.

Und dieser Pott, in dem auch ich lebe und aufgewachsen bin, hat seit dem ersten Konzert der Onkelz 1995 in Dortmund eine ganz besondere Energie. Eine, die antreibt. Eine, die fordert. Dementsprechend groß war meine Vorfreude auf zweimal Oberhausen – direkt gegenüber vom Gasometer und der Rudolf Weber-Arena, in der wir vor zwei Jahren die Tour 2022 eröffnet haben.

Ich möchte den Bericht heute etwas anders gestalten, indem ich den Showteil reduziere und dafür drei Personen in den Mittelpunkt stelle. Die beiden Konzerte selbst waren natürlich gigantisch. Vor allem gigantisch groß, und die Onkelz haben wirklich fett abgeliefert. Mein persönliches Highlight an beiden Tagen war auf jeden Fall die völlig befreite Spiellaune, die man den Jungs förmlich ansehen konnte. Vor allem am zweiten Tag, als wirklich kein Blatt Papier zwischen die Band und euch passte. Ein Wort von Kevin, ein Riff von Gonzo, eine Ansage von Stephan und ein Bassdrum-Kick von Pe, und schon war der Ruhrpott in hessischer Hand. Schreibt uns doch mal in den Kommentaren oder per Mail, falls das eure erste Onkelz-Show war und ob es danach – wie wir vermuten und Stephan auch sagt – wirklich kein Zurück mehr gibt. Ich kann mir jedenfalls nur schwer vorstellen, dass man ein Onkelz Konzert verlässt und danach nicht total geflasht ist.

Zu den drei Personen, die ich eingangs erwähnt habe: Alle drei waren bei den Onkelz in Oberhausen und alle drei verbindet eine unbändige Liebe zu dieser Band. Und genau das ist der Zauber, der bei „Zu nah an der Wahrheit“ entfesselt wird.

Lisa, die Nichte meiner Frau, kenne ich seit 1999. Damals war sie acht Jahre alt. Ein Jahr später, im September 2000, hat sich ihre Mutter von der Duisburger Rheinbrücke in den Tod gestürzt. Und Lisas Vater, der Bruder meiner Frau … Über ihn will sie nicht sprechen. Aus gutem Grund. Durch ihn und uns hat sie die Musik der Onkelz kennen und lieben gelernt, aber für die Konzerte vor der Reunion war sie zu jung. Sie ist Jahrgang 1991 und gehört damit wahrscheinlich zu den jüngeren Fans, von denen ich im Konzertbericht der Loreley gesprochen habe. Sie kennt jedes Lied auswendig, jedes Album. Mit siebzehn hat sie sich „Böhse Onkelz“ über ihr Herz tätowieren lassen und ich weiß nicht, wie oft ihr die Lieder über so viele traumatische Momente hinweggeholfen haben. Menschen behaupten oft, sie seien „auf der Straße“ aufgewachsen. Allzu oft wollen sie sich damit profilieren; bei Lisa stimmt das. Duisburg-Hochheide war ihre Hood. Und die Onkelz ihre Beschützer und Mutmacher in manch einsamer, dunkler Nacht. Die Shows in Oberhausen waren Lisas drittes und viertes B.O.- Konzert, und wenn man ihr während der Abende in die Augen sah, bekam man eine Ahnung von „irgendwie seelenverwandt, auch wenn du ’s nicht glaubst“.

Ich spüre und weiß, dass ihr alle, die ihr das Lied so inbrünstig mitsingt, ähnliche Erfahrungen gemacht habt wie Lisa. In unterschiedlichen Ausprägungen natürlich. Glück oder ein sorgenfreies Leben ist selten der Portalöffner zu den Onkelz gewesen. Oft sind es Lebensumstände, die Kraft und Kampf erfordern. Und das ist das Band, das magische Band, das Seil zwischen Kevin, Gonzo, Pe, Stephan und euch. Manchmal wird von beiden Seiten daran gezogen, von 2005 bis 2014 war es dünn – aber es ist nie gerissen. Ein Wunder. Fast so groß wie das, das Kevin am Leben hielt.

Richard lernte ich am ersten Showabend kennen. Er sprach mich auf meinen Pass an, wollte wissen, ob ich die Band kenne. Sehr höflich, sehr interessiert. Richard ist Jahrgang 1965. Der Mann hat eine verdammt bewegte Vergangenheit hinter sich und dass schon, wenn nur 10% des Gesagten stimmen. Nach der Show unterhalte ich mich noch ein paar Minuten mit ihm. Anfang der Achtziger war er ein Skinhead im Pott. Natürlich mit „Der nette Mann“ und „Böse Menschen – Böse Lieder“ im Schrank. Der war 1985 in Lübeckdabei, der war richtig, richtig böse. Die Haare hat er sich – im Gegensatz zu den Onkelz – nie wachsen lassen, aber die Einstellung wechselte dann ab den Neunzigern ins andere extreme Lager. Und auch dort verbrachte Richard Jahre in engen Denkmustern, bis er auch von Linksextremismus, schwarzen Blöcken und vermummten Feierabend-Fights genug hatte. Heute feiert er „Ohne mich“ ganz besonders, und ich glaube zu wissen, warum. „Ich habe die Schnauze voll von den ganzen Idioten links und rechts“, sagt er mir – die Initialzündung für unser Gespräch nach der Show. Und auch er hat sich die Onkelz tätowieren lassen. Den Schriftzug von „Böse Menschen – Böse Lieder“ mit dem S in Onkel(s). Quer über den Rücken. Heute ist er Streetworker. Das Leben, so scheint es, schlägt manchmal seltsame, aber richtig interessante und gute Wege ein. Wichtig ist nur, nicht dauerhaft von eben jenem Weg abzukommen und falls doch, genug Brotkrumen für die lange Heimreise ausgelegt zu haben.

Susanne ist wahrscheinlich in meinem Alter, Anfang vierzig. Ich sehe sie abseits der Menge stehen und etwas verhaltener feiern. Nur bei „Angst ist nur ein Gefühl“ singt sie richtig mit, geht mitten rein. Wir unterhalten uns ein paar Augenblicke. Vielleicht sieht sie mir auch an, dass große Menschenmengen nicht so mein Ding sind. „Platzangst“, sagt sie, „ich kann nicht nach vorne gehen, da bekomme ich sofort Panikattacken.“ Ich nicke ihr zu und denke an Stephans Ansage vor dem Lied, dass es immer mehr Menschen mit Angststörungen gibt, und wünsche mir, dass dieses Lied hilft, ein bisschen Kraft zu finden, um weiterzukämpfen. Auf Susannes Schultern steht „Wut ist das Geheimnis“ und ich verstehe, ja fühle fast genau, was sie damit meint.

Ich liebe es, wie oft die Band an diesen Abenden das letzte bisschen Energie aus euch herausholt. Und andersrum. Selbst an Tagen, die fast 30 Grad aufs Thermometer bringen. Auch wenn bei so einer Mammutproduktion nichts dem Zufall überlassen werden kann, sind es immer wieder die kleinen Momente der Sprachlosigkeit, die man in den Gesichtern von Gonzo, Kevin und Stephan sieht, die einem zeigen, wie geil der Pott feiert und wie gut das dieser Band tut.

Was sind eure Highlights der Shows? Sind es die alten, die neueren oder die neuen Songs? Gefällt euch „Zieh mit den Wölfen“ auch so krass? Oder „Das Problem bist du“? Ein Rocker vor dem Herrn, auch fast 30 Jahre alt und ein so wichtiger Aufruf zur Selbstreflexion. Ich liebe „H“ und freue mich, dass Kevin das Lied am zweiten Tag fehlerfrei gesungen hat, weil es ihm besonders am Herzen liegt und ich mir vorstellen kann, dass gerade da Texthänger etwas unangenehm sind. Der Hut, den ich vor Kevins Leistung auf der Tour im Allgemeinen ziehen muss, kann gar nicht groß genug sein. Diese unglaubliche, fast schon animalische Kraft, die von den vier Jungs aus Frankfurt ausgeht, kulminiert Abend für Abend (und in Oberhausen noch mal mehr) in „Nichts ist für die Ewigkeit“. Einer von einigen Hits der Onkelz und die sind eben doch für die Ewigkeit. Jeder und gleichzeitig niemand kennt sie. Und so viel kann man aus diesem Text an Wahrheit über die Band rauslesen. So unglaublich viel. Man muss es nur wollen.

Gonzo? Der spielt auf seiner „Angebergitarre“ wieder diese magischen Noten, die jeden Anwesenden auf dem Platz zum Ausrasten bringen. Hier kann Vincent auch nochmal

richtig in die Tasten hauen und zeigen, was er kann. „Mittlerweile bin ich nicht mehr groß nervös“, sagt er mir vor Show eins. „Vieles ist in meinem Muskelgedächtnis drin, aber ich

freue mich natürlich riesig auf jede einzelne Show!“

Zeit zum Ausruhen bleibt nicht, wenn bei „Terpentin“ im Anschluss Mauern eingerissen, Geschichte gemacht und Widerstände erprobt werden. Der Revoluzzer hat 2024 ein Bengalo in der einen und ein Bier in der anderen Hand, feiert friedlich und haut seinem Gegenüber keinesfalls auf die Schnauze.

Diese unglaublichen Spektakel-Shows sind auch das Ergebnis hart arbeitender Gewerke. Jedes Rädchen greift ineinander, die Crew ist perfekt aufeinander eingespielt. Licht, Ton, Security, Bus, Küche, Rigging, Backline und so weiter. Ich wiederhole Stephan: „Leute, ohne euch geht das nicht. Applaus!“ Hochachtung vor dem, was die zahlreichen Crew- Mitglieder hier jeden Konzerttag schaffen. Da ist jeder Off-Day hart verdient und notwendig.

Oberhausen war zweimal mächtig, mit einem bärenstarken Auftritt der Onkelz und Vincent Röhr an den Keyboards. Seit 2014 erleben wir das beste BÖHSE aller Zeiten und ich hoffe, dass wir alle noch lange an diesen gemeinsamen Momenten teilhaben können. Ich fühle mich wieder wie 30 und lerne wunderbare Menschen kennen, deren Geschichten so reichhaltig, spannend und voller Grautöne sind wie der Pott und seine Umgebung.

Danke für zwei Abende, die ich nie vergessen werde. Und danke auch für die netten Gespräche mit Euch, ob in Frankfurt, auf der Loreley oder zu Hause. Marco übernimmt für die letzten vier Shows und ich freue mich schon auf alles, was diese magische Verbindung noch für uns bereithält.

Wir lesen uns.

// Text: Dennis Diel

// Fotos: Christian Thiele

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