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Die zweite Hälfte der diesjährigen Tournee beginnt in Hamburg und damit mit einem Heimspiel für Kevin. Hamburg, das Tor zur Welt, hat eine lange Liste namhafter Persönlichkeiten, die hier geboren sind und die sich auf die ein oder andere Art für die Stadt verdient gemacht haben. Schaut man einmal in diese Liste auf Wikipedia, findet man unter der Kategorie “Musik” niemand geringeren als Kevin Russell. Irgendwo zwischen Lindenberg und Westernhagen ist sein Name auf der “Wall of Fame”, die mitunter auch einer “Wall of Shame” ähnelt, verewigt. 

Hamburg, das ist für mich Nüchternheit, aber auch Klarheit und Ehrlichkeit. Das ist irgendwas zwischen Unnahbarkeit und Liebe. Pragmatismus und vor allem Zuverlässigkeit. Hamburg, das ist natürlich der HSV, Weltoffenheit, Toleranz und Akzeptanz. Über letzteres werden wir noch reden müssen. Wenn ich nicht in Berlin gelandet wäre, wäre ich heute ganz sicher Hamburger. Also wahrscheinlich.

Das, was der Hanseat wohl als hochsommerlich bezeichnen würde, empfing uns bei unserer Ankunft in Hamburg am frühen Dienstagmorgen. Es nieselt kleine Sonnenstrahlen, die sich beim Ausstieg aus unserem Nightliner kühlend auf unsere Haut legen. Dazu gesellte sich eine kalifornisch-anmutende Sommerbrise, bei strahlend grauem Himmel und alles in Kombination lässt keinen Zweifel aufkommen: Wir sind wohl in Hamburg angekommen. 

Die heutige Barclays Arena, vormals Barclaycard Arena, davor O2 World Hamburg und davor wiederum Color Line Arena, ist uns noch bestens in Erinnerung. Also von unseren Shows, nicht von der Namensgebung. Einmal wegen des Konzerts im Rahmen der Memento-Tour am 12. & 13. Dezember 2016 und natürlich aus der Show vom 5. Oktober 2004, die später als Livealbum “Live in Hamburg” im April 2005 veröffentlicht wurde und die sich volle drei Wochen auf Platz 1 der deutschen Albumcharts hielt. Über 17 Jahre ist das schon wieder her! Die Arena befindet sich in unmittelbarer Nachbarschaft zum Volksparkstadion und bietet eine Kapazität von bis zu 16.000 Plätzen. 

Eben jene Nähe zum Volksparkstadion wurde zur Herausforderung, als wir am Nachmittag unser euch bereits bekanntes Drohnenbild der Venue machen wollten. Denn dieses Gebiet um das Stadion herum wurde als Sperrzone erkannt und damit wollte unsere Drohne zunächst nicht abheben. Eigentlich. Mit ein paar Klicks und dem heiligen Versprechen, jede Verantwortung für ihren Flug zu übernehmen, steigt sie dann doch empor und wir können euch doch noch ein paar Luftaufnahmen vom Vorplatz und der Halle kredenzen. Nonkonformität heißt unser Weg!

Der Vorplatz füllte sich schnell, während sich die Stimmung für hanseatische Verhältnisse irgendwo zwischen Vorfreude und größere Vorfreude einpegelte. Der Hamburger ist ja, wie oben schon beschrieben, grundsätzlich eher für seine Nüchternheit bekannt. Da ist das freudige Hochziehen des Mundwinkels schon vergleichbar mit einer Emotionseskalation. In der Halle selbst füllten sich zusehends der Innenraum und die Ränge und schon bald war Hamburg bereit für ein Wiedersehen mit den Onkelz. Lange genug hat es ja gedauert. 

Es war 20:28 Uhr, wohlgemerkt “28”, als es bereits lautstark “Oh, wie ist das schön” durch die Barclays Arena hallte. Hamburg hatte offensichtlich Bock! Als das Licht in der Halle ausging und “Hier sind die Onkelz” startete, verwandelte sich die norddeutsche Gelassenheit instantan in ein Meer aus tausenden, tanzenden und singenden Onkelz-Fans. Der erste Ton, den Gonzo dabei Abend für Abend anschlägt, fungierte auch in Hamburg wieder wie eine Art Funken für ein hoch-explosives Meer aus Fans, die hungrig sind. Hungrig nach den Onkelz. Und der Funken zwischen Band und Fans sprang sofort über. Stephan wies nach “So sind wir” auf das Heimspiel für Kevin hin, was wiederum ein kollektives “Hamburger Jungs, Hamburger Jungs, wie sind alles Hamburger Jungs” auslöste. Kevin sichtlich gerührt, mag physisch noch ein Aufstiegsaspirant sein, ist aber stimmlich schon die gesamte Tour auf Champions-League Niveau. Und heute Abend, bei seinem Heimspiel, habe ich den Eindruck, legte er nochmal eine Schippe drauf. 

Mit “Finde die Wahrheit” und der “Stunde des Siegers” erreichte Hamburg dann das, was wir auf Tour gemeinhin als „Betriebstemperatur erreicht” verstehen. Stephan, der in Hamburg besonders viele, besonders treffende Ansagen machte, konstatierte früh: “Unglaublich, immer wieder in eure Augen zu schauen. Großes Kino, Hamburg!”

Während des Songs “Ich bin in dir” kam es vor Stephan dann offenbar zu Handgreiflichkeiten im Pogo-Rausch, die ihn wiederum verlassten, vor “Gehasst, verdammt, vergöttert”, die betreffende Person darauf hinzuweisen, dass sich hier nicht um einen Hahnenkampfarena handelt, sondern um ein Onkelz-Konzert. “Hast du dir mal “Viva los Tioz” angehört? Darin heißt es: “Wir tauschen Hass gegen Gitarren!“, stellt Stephan im Stile seiner Ansagen aus den Neunzigern klar. “Hier wird niemand rausgeboxt, oder getreten! Wir sind hier bei den Onkelz! Wenn du Eier hättest, würdest du jetzt rausgehen und dich entschuldigen!” Das Ding hatte gesessen, Chapeau! Traurig, dass diese Ansage überhaupt nötig war, aber sie war wichtig. Zurück zur Show. 

Ich wechselte anschließend meinen Standort, um möglich viele Eindrücke zu sammeln und höre “Gehasst, verdammt, vergöttert” aus den Katakomben der Arena so laut, dass ich das Gefühl hatte, ich würde immer noch neben der Bühne stehen. Ich bekomme vom Schreiben noch Gänsehaut. Gänsehaut ist übrigens ein gutes Stichwort, wenn wir über “Schöne neue Welt” sprechen. Stephan: “Krieg kann nie eine Lösung sein. In diesen Zeiten müssen wir feststellen, dass Frieden keine Selbstverständlichkeit ist”. Mit diesen zwei Sätzen ist alles gesagt. Der Standpunkt klar. In keiner Konzertreplik der größeren Tageszeitungen, die ich auf dieser Tour gelesen habe, wird diese Aussage zitiert. Passt offenbar nicht ins Bild, passt nicht zum Klischee. Deshalb soll und muss es hier abermals erwähnt werden.

Bei “Terpentin” brach Hamburg dann fast den in Dresden aufgestellten Rekord der “Oooooohs” im Anschluss an den Song. Es fehlten ganze 2,5 Sekunden und der Wanderpokal wäre von sächsisch auf hanseatisch gewechselt. Das war knapp! Stephan quittierte dennoch: “Die Tour ist eine Sensation und ihr seid großartig”. Großartig waren auch an diesem Abend übrigens wieder die vier Frankfurter. Das muss erwähnt werden! Pe spielt seit Oberhausen einfach jeden Song mit der Präzision einer Nähmaschine, ohne Fehl und Tadel. Oft hören wir ihn neben unserem Office, wie er sich am Test-Drum-Kit akribisch auf jede Show vorbereitet. Gonzo hat nicht nur schon jetzt den Style-Award der Tour gewonnen, er strotzt auch voller Spielfreude und jeden Abend, bei jeder Show kann man diese Begeisterung und diese Lust am Touren nicht nur hören, man sieht sie ihm an. Gleiches gilt für Stephan, der mir nach der Show heute Abend wieder mit einem breiten und zufriedenen Grinsen begegnet und dessen Ansagen, ich hatte es erwähnt, heute ganz besonders wichtig waren. In dieser Form, mit dieser Leidenschaft und mit dieser Spielfreude ist mit Onkelz zu rechnen, auch weit über diese Tournee hinaus. 

Mit “Nur die besten sterben jung” wird das letzte Drittel der Setliste eingeläutet und dieser Song wird, wie Stephan zu Beginn stets ansagt, den Mörder von Trimmi bis an sein Lebensende daran erinnern, was er getan hat. Gleichermaßen erinnert er uns an Thomas Hess und all jene, die viel zu früh von uns gegangen sind. Wenn wir auf der Straße wahllos Menschen ansprechen würden, welche Songs sie von den Onkelz kennen, dann wäre “Nur die besten sterben jung” ganz sicher immer unter den Top 3. Für viele ist und war es der erste Song, den sie von den Onkelz hörten und das in einer Situation des emotionalen Ausnahmezustands. Dieses Lied eint alles und jeden in seiner Trauer. Unabhängig davon, ob man nun Onkelz-Fan ist oder nicht. Vor dem Tod sind wir ohnehin alle gleich. Manche blinzeln solange mit den Augen, bis ihre Tränen getrocknet sind. Andere liegen sich in den Armen und wiederum andere schauen Luftlöcher, wie in Paralyse. Die Musik der Onkelz eint in der Vergangenheitsbewältigung. “Nur die besten sterben jung” reißt alte Wunden wieder auf, tut höllisch weh und nimmt dich gleichermaßen tröstend in den Arm. 

Auf der Ziellinie unseres heutigen, hanseatischen Gastspiels brachte “Keine Amnestie für MTV”, “Wir haben noch lange nicht genug” und “Heilige Lieder”, die Halle nochmal zum Siedepunkt. Bei letzterem nahm sich Gonzo dieses Mal sogar noch die Zeit, während seines Solos, mit einer Frau und ihrem Kind in der ersten Reihe abzuklatschen. Bis unters Hallendach schallte es den Refrain und jedes Wort wurde in den Nachthimmel über Hamburg zementiert. “Ihr Wahnsinnigen”, rief Stephan ins weite Rund und Hamburg war bis zum letzten Ton von “Nichts ist für die Ewigkeit” und “Viva los Tioz” da. Hamburg sang und tanzte, feierte und lachte. Es war einfach nur eine Freude euch dabei zuzusehen. 

Großes Kino, anders kann ich es nicht zusammenfassen. Von eurer anfänglichen hanseatischen Zurückhaltung war heute Abend zumindest mal so gar nichts mehr zu spüren. Danke, dass ihr diese 2,5 Stunden mit uns gefeiert habt, dass ihr uns so euphorisch und mit so viel Leidenschaft und Liebe getragen habt! 

Ihr. seid. die. Geilsten.

Tschüss, sagt der Hamburger. Wir sehen uns wieder, sagen wir.

Text // Marco Matthes

Fotos // Christian Thiele

Illustration // Lennart Menkhaus

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