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Das Label Rock´O´Rama wurde ´82 von Herbert Egoldt aus Brühl gegründet. Zuvor hatte er ´77 seinen gleichnamigen Plattenladen in der Weidengasse eröffnet und war schnell zum frühen „Independent-Pionier“ avanciert. Mit besten Kontakten nach England und eigenem Mailorder-Vertrieb, hatte das Rock´O´Rama Label ´84 seinen Fokus auf den Punk und New-Wave gelegt. Egoldt bediente damit eine Nische, die für die großen Major-Labels uninteressant war, weil hier nicht viel zu holen war. Dabei war Independet-Musik seit ´77/´78 ein fester Bestandteil der Jugendkultur geworden. 1984 jedoch beginnt er sein Repertoirebereich auf die wachsende rechte Musikszene in England und Deutschland auszuweiten.
Egoldt hatte die Onkelz angerufen und ihnen gesagt, dass er gerne eine Platte mit ihnen aufnehmen würde. Er bietet den Onkelz einen einseitigen Vertrag über drei Alben an, verspricht der Band eine Zahlung von 1,- DM pro verkaufter Platte und sichert sich die Rechte an den Songs auf Lebzeiten. Die Böhsen Onkelz sind noch unerfahren im Musikgeschäft und gehen begeistert auf den Deal ein. 1984 wird also für die Böhsen Onkelz das Schlüsseljahr, in dem sie ihre erste LP „Der Nette Mann“ in den Frankfurter MTV Studios mit Lazlo Viragh aufnehmen und sich den Titel „Kultband der Skinheadszene“ sichern. Es ist ein kurzes Telefonat mit Stephan, in dem Herbert alle Details abklärt und währenddessen er zusichert, dass er die anfallenden Kosten für die Produktion tragen wird. Sie sollten sich ein Studio suchen und die Masterbänder an ihn senden. Alles Weitere würde er klären.
Lasio „Lotzi“ Viragh war Inhaber des MTV-Studios in der Frankfurter Voltastraße. Egoldt hatte das MTV-Studio für April ´84 gemietet, sodass die Onkelz dort ihre neue Platte aufnehmen konnten. Die Band ist aus dem Häuschen. Dass sie als Skinhead-Band ihre erste eigene Platte aufnehmen würden, können die Onkelz kaum glauben. Die Aufnahmen selbst sind nach 5 Tagen abgeschlossen.
Anfang Mai ´84 erscheint „Der Nette Mann“ auf dem Markt. Die Songs machen schnell klar, aus welchem sozialen Kontext die vier Frankfurter kommen. Politisch motivierte Texte sind auf der ersten Onkelz-Scheibe nicht zu finden, weil ihnen Politik am Arsch vorbei geht und in ihrem Leben keine Rolle spielt. Die Onkelz sind unpolitische Skinheads durch und durch. Den Kult, der in diesen Jahren von England nach Deutschland schwappt, hatte die Band verinnerlicht und jetzt auch äußerlich verkörpert. So ist es immer gewesen: Entweder sie taten etwas aus vollster Überzeugung, oder aber sie ließen es ganz bleiben.
Die Faszination an der Skinhead-Bewegung besteht 1984 nicht zuletzt in dem großartigen Gefühl einer Gemeinschaft anzugehören, die füreinander einsteht. Working-Class ist etwas, dass die Onkelz aus ihrem eigenen Leben kennen. Bisher war den Vieren nichts in den Schoß gefallen. Betrachtet man den sozialen Kontext der Band, so wird deutlich, dass es wenige Konstanten in ihrem Leben gibt, in denen sie Halt finden. Die Skinhead-Szene gibt ihnen eine Gemeinschaft, die sie zu Hause nicht kennen. Die Bewegung im Allgemeinem wird schnell zum Auffangbecken für gescheiterte Jugendexistenzen.
Auf „Der Nette Mann“ finden sich insgesamt 14 Stücke, von denen drei Songs, „Stolz“, „Vereint“ und „Freitag Nacht“, bereits auf dem Demotape erschienen waren. 11 brandneue Songs hatte Stephan geschrieben und war dabei über sich hinaus gewachsen. „Der Nette Mann“ ist das erste Album einer deutschen Band, deren Mitglieder zu 100% Skinheads sind und sich auch dieser Szene verbunden fühlen. Musikalisch lässt es bereits die spätere Professionalität und Härte erkennen und gerade Gonzo hebt sich mit seinem inzwischen weit fortgeschrittenen Können von der Masse deutscher Bands ab.
Die Texte drehen sich fast ausschließlich um Gewalt, Alkohol und Sex. Gerade das Titelstück in seiner ganzen Scheußlichkeit, findet bei den Skinheads in Deutschland großen Anklang. Das Stück „Der nette Mann“ handelt von einem Kindermörder, der getarnt als netter Nachbar praktisch nicht auffindbar ist, da er sich hinter der Maske des „netten Mannes“ versteckt. Der Song, der in der ersten Person Singular gesungen und mit Kevins rauhem Organ vorgetragen wird, gilt in Deutschland als massiver Tabubruch. Diesem sprachlichen Mittel bedient sich Stephan recht häufig, um seine Gedanken noch authentischer wirken zu lassen. Zum ersten Mal setzt sich eine Band auf ihre eigene Art und Weise mit dem Thema Kindesmißbrauch auseinander. Der Täter wird hier als „perverses Schwein“ dargestellt und sorgt für große Empörung bei den Jugendschutzvereinen, Kommunen und Gemeinden. Man unterstellt der Band, sie selbst würden zum Kindermord aufrufen. Hört man den Song das erste Mal, muss man tatsächlich unweigerlich schlucken. Diese Zeilen sind krass und rufen Ekel hervor, keine Frage. Sie sind aber mitnichten eine Aufforderung zur Gewalt gegen Kinder. Eine derartige Interpretation kann die Szene später selbst mit größter Fantasie nicht nachvollziehen.
Ebenso skandalös empfindet man das Lied „Mädchen“, dessen Inhalt im Jahr 2014 den Jugendschützern wohl nicht mehr als ein müdes Lächeln entlocken würde. Jeder halbkrasse Deutschrapper rappt heute härtere Zeilen.
Der Song „Frankreich ’84“, der die anstehende Fußball Europameisterschaft in Frankreich thematisiert und in dem das Wort „Frankreichüberfall“ fällt, wird später als Hauptgrund für die angeblich faschistoide Gesinnung der Musiker herhalten müssen. Das war Quatsch. Der Hintergrund des Songs ist zwar brutal, aber es geht im Kern um Fussballkrawalle, die jeden Samstag für Stephan und Kevin immer wichtiger wird. Immer wieder gibt es gewaltsame Auseinandersetzungen, vor, während und nach den Fußballspielen. In Frankfurt und vielen anderen Städten hatte die Polizei zivile Beamte in die Fanblocks geschleust, die die Anführer der Krawalle ausfindig machen sollten. Stephan, der immer vorne mit dabei ist, war den Beamten seit Langem bekannt. Sie wussten alles über ihn und ermahnen ihn mehrmals mit handfesten „Argumenten“, dass er aufpassen solle, was er tut. Stephan gehört zum festen Kern der Frankfurter Hooligan-Szene, und Kevin ist ein hühnenhafter, kahlgeschorener und schwer tätowierter Bestandteil der „Hamburger Löwen“, die man in ihrer Gesamtheit der „Kategorie C“ des Fußball-Fan-Typus zuordnen musste.
Desweiteren befindet sich auf dem Debütalbum „Der Nette Mann“ das Lied „Deutschland“. Ein Song, indem zum ersten Mal nach dem zweiten Weltkrieg eine deutsche Band die Textzeile „Wir sind stolz darauf, Deutsche zu sein“ verwendet. Merkwürdigerweise wird dieser Song, in den man unverblümt einen übertriebenen und gefährlichen Patriotismus hineininterpretieren konnte, bei der späteren Beanstandung des Albums durch die Bundesprüfstelle nicht nur nicht besprochen, sondern nicht einmal erwähnt. Zwar bezieht sich die Zeile „zwölf dunkle Jahre“ auf die Jahre des Nationalsozialismus von ´33 bis ´45, und versucht damit einen faschistoiden Bezug zu negieren, dennoch ist das Stück in vielerlei Hinsicht ein Unikum. „Deutschland“ wird Ausdruck des wachsenden Patriotismus der Band zu ihrem Heimatland. „Wir sind stolz darauf, Deutsche zu sein“, ist etwas, das sich niemand aus der Mitte der Gesellschaft zu sagen wagt. Die Gräueltaten des dritten Reichs waren auch 40 Jahre nach Ende des zweiten Weltkriegs derart präsent, dass Nationalstolz im Allgemeinen unweigerlich in einen faschistischen Kontext gesetzt wurde. Wie bereits der Punk, ist auch die Skinhead-Bewegung eine Randbewegung, deren Ziel unerbittliche Provokation wird. So will auch das „Deutschlandlied“ provozieren, weil es etwas thematisiert, das auch hinter vorgehaltener Hand nicht geäußert wird. Zur englischen Skinhead-Bewegung gehörte auf jeden Fall auch eine ordentliche Portion Patriotismus. Das war in Großbritannien soweit kein Problem, in Deutschland jedoch ein echter Tabubruch. Dabei bringt „Stolz“ in Bezug auf das Skinhead sein den individuellen Stolz jedes Einzelnen zum Ausdruck und kein Rassenbewusstsein. Nicht zu leugnen ist aber auch, dass die Onkelz mit diesem Song die Grenze zum Rechtsradikalismus tangieren und dass das „Deutschlandlied“ weitreichende Konsequenzen für die Entwicklung der Böhsen Onkelz haben wird.
„Der Nette Mann“ übertrifft bei seinem Release alle Erwartungen. Innerhalb von wenigen Monaten steigen die Böhsen Onkelz in der Szene zum Aushängeschild auf. Wie viele Platten Egoldt in Wirklichkeit verkauft hat, weiß nur er allein. Fest steht, dass die Resonanz auf das Album alles übersteigt, was sich die Band hätte vorstellen können.
Ebenfalls Fakt: Von Anbeginn an ranken sich Mythen und Halbwahrheiten um die Band und fast jeder Skin behauptet, er kenne die Band persönlich.
Im Juni ´84 reisen Stephan, Pe und Kuchen nach Frankreich, um sich die Spiele der deutschen Nationalmannschaft während der Europameisterschaft anzusehen. Auch der französischen Polizei sind Skinheads und ihr Ruf bekannt, weshalb man dem Trio die Eintrittskarten direkt vor dem Stadion wieder abnimmt. Entsprechend geknickt sitzen Pe und Stephan am Abend an der Mittelmeerküste und bringen ihre Gedanken, die sich seit ein paar Wochen manifestiert hatten, zum Ausdruck. Sie sind das erste Mal genervt vom Korsett der Skinhead-Bewegung, von den Klamottenvorgaben und den Hooligans. Sie fühlen sich eingeengt und das war schon ganz früh etwas, das keiner der Onkelz ertragen konnte.