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Wir schreiben die 11. Show dieser Tour 2022 und wir machen Halt in Chemnitz. Ich sitze im Tourbus, es ist weit nach 1 Uhr an diesem Freitagmorgen und ich blicke erwartungsvoll auf das weiße Blatt Papier vor mir. Mein Mauszeiger blinkt ungefähr in der Geschwindigkeit meines Herzschlags und ich versuche meine Gedanken und Eindrücke der vergangenen 2,5 Stunden in meinem Kopf zu sortieren. Hinter mir werden gerade die letzten Cases in die Trailer verladen und in etwa einer Stunde brechen wir auf in Richtung Leipzig.
11 Shows, das bedeutet, kumuliert mehr als 25 Stunden Onkelz live. Das bedeutet aber auch knapp 4.000 km Fahrt im Tourbus. Das ist nichts, was mit einer Truppe aus Egomanen und Eremiten funktioniert. In Summe haben wir bislang allein rund 50 Stunden gemeinsam in einem der 11 Tourbusse verbracht. Das ist mehr Zweisamkeit auf engstem Raum, als so manche Ehe nach 50 Jahren vorzuweisen hat. Und mittlerweile ist daraus eine funktionierende Einheit entstanden, ein Team, eine Art Familie auf Zeit. Ein Großteil der Truppe ist seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten dabei. Die, die neu dazukommen, fügen sich nahtlos ein. Alle, die hier fest an Board sind, eint, dass sie ihren Beitrag zu einer gelungenen und unvergesslichen Onkelz-Show für euch Fans leisten wollen. Jedes Gewerk fungiert dabei wie ein Zahnrädchen und es ist die Herausforderung, dass alles ineinander greift. Von den Riggern, über die Leute vom Licht, vom Ton, Bühnentechniker, Caterer, Laundry-Service, Backliner, unsere Busfahrerinnen und Busfahrer, bis zu den Secus etc.: jeder gibt jeden Tag alles, jeder ist für den Anderen da. Dass das heute Abend besonders wichtig sein würde, ahnten wir bei unserer Ankunft in Chemnitz allerdings noch nicht.
Rückblick. Es ist Mittwoch, ein Off-Day der Tour, als wir im verregneten Chemnitz am Hotel ankommen. Das Wetter ist hanseatisch hochsommerlich, weshalb ich erstmal den Weg aufs Zimmer ins Bett wähle. Das Schlafen im Bus funktioniert mittlerweile zwar ganz gut, aber es ist eben auch nicht vergleichbar mit einem guten Hotelbett und dem Gefühl der “eigenen” vier Wände. So plätschert sprichwörtlich der Tag vor sich hin und jeder nutzt die Zeit, um wahlweise Schlaf aufzuholen, ein bisschen Lebensmittel einzukaufen, oder Chemnitz ein wenig zu erkunden.
Am Showtag stehen abermals bereits am frühen Vormittag die üblichen Verdächtigen am Einlass, die wir in Teilen bereits seit Oberhausen und Dresden kennen. Das Team “Wir bleiben” wird auch heute, übrigens zum elften Mal (!), in der ersten Reihe stehen, direkt vor Stephan und jeden Song voller Inbrunst mitsingen, als wäre es ihre erste Show. Ihr seid einfach Wahnsinn! Nachdem die Show in Rostock für unsere Bühnen-Crew bereits etwas herausfordernder war, sollte auch Chemnitz mit einigen Veränderungen aufwarten. So musste die Bühne insgesamt etwas kleiner konzipiert werden und aufgrund der geringen Deckenhöhe wurde in Chemnitz keine Stage-Kinetik eingesetzt. Der Stimmung in der Messehalle, soviel sei verraten, tat dies allerdings keinen Abbruch.
Die Messehalle, 1953 erbaut, war ursprünglich mal eine Produktionshalle für Flugzeugmotoren, ehe sie 2003 als Multifunktionshalle eröffnet wurde. Der industrielle Charme ist noch immer in allen Ecken spürbar und bietet bis zu 13.000 Stehplätze.
Als ich kurz vor dem Beginn des Intros von der Bühne in die Halle schaue, habe ich den Eindruck, hier sind heute mindestens 25.000 Fans. Von ganz vorn, bis ganz hinten, sehe ich ein Meer an Onkelz-Fans. Dicht gedrängt bis unmittelbar an die Türen. Ich glaube, keine Halle der bisherigen Tournee war so voll, wie die Chemnitzer Messehalle heute Abend. “Oh, wie ist das schön“, hallte es von überall, noch weit bevor der erste Ton gespielt war. Chemnitz wollte hier und heute Abend ganz offensichtlich alles geben und Dresden sowie Erfurt mindestens den Rang ablaufen. Entsprechend wild ging es von Beginn an auch in den ersten Reihen zu. Schon früh wird hier ein Fan offenbar im übertriebenen Pogorausch so schwer getroffen, dass dieser augenscheinlich bewusstlos zu Boden geht. Sofort gibt es Zeichen in Richtung der Band, die daraufhin das Konzert kurzzeitig unterbricht. Sanitäter versorgen den Betroffenen und nachdem es Entwarnung gibt, kann es anschließend weitergehen. Ein gutes Beispiel dafür, wie es eben auch laufen kann: Rücksicht aufeinander nehmen und wenn einer fällt, wird ihm aufgeholfen. Wenn jemand medizinische Hilfe braucht, dann wird diese informiert. Wir können uns nicht ernsthaft „La Familia” nennen, wenn wir diese Grundsätze des Miteinanders auf einem Onkelz-Konzert nicht leben. Es sollte allerdings leider nicht der einzige Zwischenfall an diesem Abend bleiben.
Die Band selbst spielt sich derweil auch in Chemnitz wieder in einen Rausch aus Spielfreude und Interaktion untereinander. Von Tour-Müdigkeit kann ich beim Zuschauen der Vier wahrlich nichts entdecken. Kevin, heute mit neuer Brille am Start und sehr aktiv, heizt Chemnitz schon von Beginn an ordentlich ein. Vini, routiniert wie eh und je, in der Anmutung irgendwo zwischen Christian Lorenz und Tony Banks, singt noch immer jeden Song auf jeder Show mit und begeistert einfach beim Zuschauen, durch seine Leichtigkeit und seine spürbare Leidenschaft. Da wächst unzweifelhaft ein großartiger Musiker heran! Bei “Gehasst, verdammt, vergöttert” ist die Energie im Chorus in der Halle nun endgültig am Höhepunkt angekommen und Chemnitz ist heute Abend sehr gut bei Stimme.
Chemnitz ist sogar so gut bei Stimme, dass heute Abend bei “Terpentin” tatsächlich Tour-Geschichte geschrieben wurde. Der Rekord aus Dresden der längsten “Ooooooohs” am Ende des Songs wird tatsächlich gebrochen und der Tournee-Wanderpokal wandert damit innerhalb Sachsen von Dresden nach Chemnitz. Glückwunsch, das war aber auch fett und mehr als verdient!
Bei “Keine Amnestie für MTV” kommt es dann abermals zu Rangeleien in den ersten Reihen, ausgelöst offenbar durch ein paar erlebnisorientierte Nachtschattengewächse. In den Neunzigern wäre Weidner & Co. wahrscheinlich aus dem Stand direkt in den ersten Wellenbrecher gesprungen und hätten einige osmanische Schellen verteilt. Heute Abend wirkt unsere großartige Secu-Crew deeskalierend und Stephan lebt das vor, was er in seinen Ansagen auch immer wieder proklamiert. Statt Feuer mit Feuer zu bekämpfen, hat er die passenden, sehr klaren Worte parat, die ihre Wirkung nicht verfehlen. Am Ende zahlt sich diese Vorgehensweise aus und die Situation beruhigt sich unter dem Beifall tausender Fans in Chemnitz wieder.
Mit “Wir ham noch lange nicht genug” und “Heilige Lieder” findet Chemnitz seine musikalische Klimax zurück und rutscht damit stimmungstechnisch wieder zurück in die Top 5 der bisherigen Shows. Noch während die letzten Töne von “Viva los Tioz” durch die Messehalle schwingen, stehen bereits hinter der Bühne hunderte Helfer, die, sobald das Licht in der Halle angeht, mit dem Abbau der Bühne beginnen. Das Ganze dauert mittlerweile zumeist nur noch 1,5 Stunden, dann ist von der gesamten Bühne nichts mehr zu sehen und alles ist verladen und abfahrbereit. Für mich Abend für Abend ein unfassbares Schauspiel. Hier muss einfach jeder Handgriff sitzen und jeder muss genau wissen, was er tut und was seine Aufgabe ist, womit wir wieder beim Thema der Crew und der Einheit wären.
Der Motor unseres Nightliners startet soeben pünktlich um 02:30 Uhr und die Fahrt nach Leipzig beginnt damit planmäßig. Ich habe noch ein paar Minuten, um uns gebührend von Chemnitz zu verabschieden:
Ihr habt dem Osten der Republik alle Ehre gemacht und noch so ganz nebenbei Tour-Geschichte geschrieben! Danke für dieses grandiose Konzert in eurer Stadt, danke für eure breite Unterstützung und dafür, dass ihr mit uns gemeinsam weit überwiegend friedlich und miteinander diese Onkelz-Konzerte feiert!
Nächster Halt: Leibzsch.
Text // Marco Matthes
Fotos // Christian Thiele
Illustration // Lennart Menkhaus